Auffanglager

Deportationsmahnmal Schlachthoframpe am Hauptbahnhof in Wiesbaden
Deportationsmahnmal Schlachthoframpe am Hauptbahnhof in Wiesbaden

Als „Auffanglager“, in dem sich die zur „Evakuierung“ bestimmten Juden am Vortag der Abreise einzufinden hatten, dienten jüdische Gemeindehäuser, angemietete Säle oder Hallen, in denen manchmal Doppelstockbetten, manchmal nur Liegestühle oder Strohschütten für die Übernachtung bereitstanden. Finanzbeamte sammelten und überprüften die achtseitige Vermögenserklärung. Gemäß der eigens dazu geschaffenen 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 verlor jeder Jude „mit der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ins Ausland“ die deutsche Staatsangehörigkeit; zugleich fiel das Vermögen beim Überschreiten der Grenze an den deutschen Staat. Auch Auschwitz im besetzten Oberschlesien wurde wenig später als „Ausland im Sinne der Elften Verordnung“ eingestuft. Bei Deportierungen nach Theresienstadt, das dem Deutschen Reich als Protektorat eingegliedert war, konnte – wie auch bei Deportationen vor diesem Datum – nicht auf diese Bestimmung zurückgegriffen werden. Um den Schein einer Legalität zu wahren, wurden für Deportationen nach Theresienstadt Gerichtsvollzieher hinzugezogen, die den im Sammellager Wartenden eine förmliche Verfügung zustellten, die auf gesetzliche Bestimmungen von 1933 über „Einziehung des volks- und staatsfeindlichen Vermögens“ zurückgriff. Der Reichsinnenminister legte in einem Erlass vom 30. Juni 1942 dar, dass die abzuschiebenden Juden allesamt „volks- und staatsfeindlichen Bestrebungen“ anhingen.

Außer Finanzbeamten, denen das Reichsfinanzministerium im November 1941 dafür unter der Tarnbezeichnung „Aktion 3“ Anweisungen erteilte, waren zahlreiche weitere Personen mit der Vermögensabwicklung beschäftigt: Banken erhielten Kopien der Transportlisten, um Sparguthaben restlos erfassen zu können. Schätzer, Auktionatoren und Spediteure wurden bei der Auflösung der Haushalte tätig. Kohlenhändler erhielten Nachricht über den eingelagerten Brennvorrat. Vermieter, die später Mietausfälle für die versiegelten Wohnungen geltend machten, reichten ihre Forderungen bei der Finanzverwaltung ein. In einer regionalen Studie werden 39 Ämter, Institutionen und Personen aufgeführt, die mittelbar oder unmittelbar an der Deportation beteiligt waren und – ganz wie bei formalen Verwaltungsakten – für Planung und Einhaltung der Vorgaben, für exakte Kostenabrechnung und den reibungslosen Ablauf sorgten.

Vor der Abreise gab es Leibesvisitationen und gründliche Gepäckkontrollen, bei denen sogar Brühwürfel und Briefmarken einbehalten wurden. Erlaubt war anfangs die Mitnahme von 100 Reichsmark; diese Summe wurde schon bald auf 50 Reichsmark reduziert und war als „Reichskreditkassenschein“ mitzuführen oder umzutauschen.[59] Das Fahrgeld war im Voraus zu zahlen oder von der „Reichsvereinigung“ zu begleichen.

 

Fahrt

 

Gemäß einer Vereinbarung mit der Sicherheitspolizei bewachte und begleitete die Ordnungspolizei die Transportzüge bis zum Bestimmungsziel; anfallende Kosten wurden von der Sicherheitspolizei an die Reichsbahn erstattet.

Als exemplarisch kann der vertrauliche Bericht des Transportleiters Paul Salitter gelten, der im Dezember 1941 mit 15 Polizisten einen Deportationszug von Düsseldorf nach Riga führte. Dieser Sonderzug mit Personenwagen sollte am 11. Dezember 1941 in Düsseldorf um 9:30 Uhr mit 1.007 jüdischen Menschen abfahren. Deshalb wurden sie bereits ab 4.00 Uhr an der Verladerampe „bereitgestellt“. Auf dem Weg vom Sammellager zur Rampe warf sich ein Mann vor die Straßenbahn, um Suizid zu begehen. Eine Frau, die sich in der Dunkelheit absondern konnte, wurde von einer Bahnangestellten entdeckt und denunziert.

Blick ins Abteil 3. Klasse
Blick ins Abteil 3. Klasse

Der Zug traf verspätet ein. Der Zeitdruck führte dazu, dass einzelne Wagen nur mit 35 Personen belegt, andere mit 60 bis 65 Personen überladen und Kinder von ihren Eltern getrennt wurden. Trinkwasser wurde nur unzureichend ausgegeben. In einigen Wagen fiel die Heizung aus. Der Zug traf nach 61-stündiger Fahrt um Mitternacht in Skirotava vor Riga ein und blieb dort ungeheizt bei 12 Grad Frost eine Nacht lang stehen. Am nächsten Morgen übergab der Transportleiter „die mitgeführten RM 50.000 Judengelder“ in Form von Reichskreditkassenscheinen an den dortigen Gestapo-Beamten.

Zielorte und Daten

Die Zielorte, Daten und Personenzahl der Deportationszüge, die deutsche Juden aus dem Reich in den Osten transportierten, sind weitgehend rekonstruiert und veröffentlicht worden. Meist sind auch das weitere Schicksal der Deportierten, die Zahl der Überlebenden oder die Umstände ihres Todes bekannt. Ältere, gebrechliche oder prominente Juden und solche mit besonderen Verdiensten im Ersten Weltkrieg wurden in das als „Altersghetto Theresienstadt“ bezeichnete Lager deportiert. Zuvor mussten sie Heimeinkaufsverträge abschließen und ihr Vermögen dabei weitgehend abtreten. Dies schützte sie aber nicht vor unzureichenden Lebensbedingungen und einer „Verlegung nach Auschwitz“.

Die Forschung unterteilt diese Deportationen in verschiedene Phasen. Vom 15. Oktober 1941 bis Anfang November transportierten zwanzig Züge rund 20.000 Juden aus den Großstädten Wien, Prag, Frankfurt am Main, Berlin und Hamburg nach Łódź. Von ihnen starben bis Jahresende 1942 mehr als 4.200 im Ghetto.

Die folgenden sieben Transporte mit 7.000 Personen aus Hamburg, Bremen, Düsseldorf, Frankfurt/Main, Berlin, Brünn und Wien wurden nach Minsk geleitet; von ihnen überlebten nur fünf Personen den Krieg. Weil das Ghetto Minsk überfüllt war, gingen zwischen dem 17. und 25. November 1941 fünf Deportationszüge nach Kaunas, die Deportierten stammten aus Berlin, München, Frankfurt/Main, Wien und Breslau. Diese fast 5000 Juden wurden von Einsatzgruppen und ihren litauischen Helfern im Neunten Fort von Kauen noch im November 1941 ermordet. Diese Massenerschießung wird als Eigenmächtigkeit von Friedrich Jeckeln und Karl Jäger gedeutet.

Vom 27. November 1941 bis zum Beginn einer Transportsperre am 15. Dezember wurden weitere zehn Züge nach Riga weitergeleitet. Das Ghetto von Riga war gleichfalls überfüllt; es wurde alsbald „freigemacht“, indem man rund 27.500 einheimische Juden ermordete. Ein Transportzug aus Berlin traf vorzeitig am 30. November 1941 bei Riga ein; alle 1.053 Insassen wurden im Wald von Rumbula erschossen; diese eigenmächtig von Jeckeln angeordnete Tötung von deutschen Juden wurde von Himmler gerügt. Im Januar 1942 fuhren weitere neun Deportationszüge mit durchschnittlich 1.000 Juden nach Riga. Danach leitete das Reichssicherheitshauptamt noch fünf Transporte zwischen dem 18. August und dem 26. Oktober 1942 nach Ríga.

Zwischen März und Oktober 1942 wurden über 45.000 Juden aus dem Deutschen Reich in Durchgangsghettos am Ostrand des Generalgouvernements oder nach Warschau deportiert. In einem „Judenaustausch“ – so die Bezeichnung der Täter – wurden die einheimischen Juden aus Lublin ins Vernichtungslager Belzec geschafft, um Platz für die „Reichsjuden“ zu schaffen. Erstmals im Mai 1942, zunehmend ab Mitte Juni 1942 wurden die Juden aus Deutschland auch direkt oder über Theresienstadt in Vernichtungslager verschleppt. 17 Transporte zwischen Mai und September 1942 gingen nach Minsk oder aber sofort zur nahegelegenen Vernichtungsstätte Maly Trostinez. Von Wien und Berlin aus fuhren im Jahre 1942 fünf große Deportationszüge nach Auschwitz.

Zahlreiche Deportationszüge hatten von Juni 1942 an bis zum April 1945 das „Altersghetto“ Theresienstadt zum Ziel, dabei überwogen jedoch „Koppelzüge“ mit ein paar Wagen, die kaum mehr als einhundert gebrechliche ältere Juden mitführten. Im selben Zeitraum fuhren aber auch mehrfach Züge von Theresienstadt ab und brachten ihre menschliche Fracht nach Treblinka und Auschwitz. Für die ersten beiden dieser Züge waren 21 Personenwagen bestellt; sie wurden mit mehr als 2.000 Personen völlig überladen.

Zwischen 1943 und 1945 wurden nur noch das Vernichtungslager Auschwitz und das KZ Theresienstadt als Zielorte der Deportationszüge aus dem Deutschen Reich gewählt. Die Massendeportation jüdischer Deutscher in ganzen Zügen wurde Ende März 1943 mit den Verhaftungen am Arbeitsplatz in der Fabrikaktion beendet. Amtlich registriert lebten im Reichsgebiet noch 31.897 Juden, darunter mehr als 18.500 in Berlin. Es folgten noch mehr als 200 Transporte, oft nur mit wenigen Personen. In der Regel handelte es sich dabei um ältere Juden, die ins „Altersghetto Theresienstadt“ deportiert wurden. Für derartige Transporte, bei denen einzelne Kurswagen an planmäßigen Zügen mitliefen, war das Reichsverkehrsministerium nicht zuständig. Aus Berlin gingen ab Juli 1942 mehrmals monatlich Transporte mit jeweils 100 Opfern vom Anhalter Bahnhof via Theresienstadt letztlich auch in die Todeslager ab.

Im Februar und März 1945 kam es zur Deportation von 2.600 jüdischen Ehepartnern, die bislang im Schutz einer „Mischehe“ verschont geblieben waren, ebenfalls ins Ghetto Theresienstadt. Diese reichsweit geplante Aktion wurde in der Endphase des Krieges abgebrochen; fast alle dieser Deportierten überlebten wegen des Kriegsendes.